20 Sekunden zu früh

Japan und der Zugverkehr – es ist eine beeindruckende Erscheinung, was die japanischen Zuggesellschaften durch beständige Selbstverbesserung auf die Beine gestellt haben! Zugverspätungen treten lediglich zu Stoßzeiten und selbst dann meist nur im ein- bis drei Minuten Bereich auf, Bahnangestellte leiten die Massen an Pendlern sicher durch die meist überfüllten Bahnsteige und -stationen und sorgen dafür, dass jeder an sein Ziel kommt und gleichzeitig der Zugverkehr nicht durch die Fahrgäste unnötig verzögert wird.

Es ist schlichtweg beeindruckend, anders kann ich ich es nicht sagen. Die U-Bahn, mit welcher ich jeden Tag in die Stadt hinein pendle, fährt zu Stoßzeiten im zwei (!!) Minuten Takt. Hier ist – selbst für die immer noch ein bisschen mehr herausholen wollenden Japaner – eine Grenze erreicht. Unter zwei Minuten – das ist einfach zu viel. Doch selbst diese hohe Frequenz an Zügen wird dem Transportbedürfnis der japanischen Gesellschaft in den Ballungszentren kaum mehr gerecht. Während der Stoßzeiten ist jeder Zug überfüllt.

Bleibt ein Zug zwischen den Stationen stehen, gibt der Fahrer innerhalb von gefühlten 10 Sekunden den Grund an, wieso der Zug denn nun nicht wie erwartet weiter seiner Destination  entgegen eilt. Sofort erklärt der Zugführer – unter mehrfachem Entschuldigen – dass er seine Garnitur nun nicht fortbewegen kann, weil der vorhergehende Zug noch in der Station steht oder einfach, weil halt vor ihm ein Signal rot ist. Aufenthalte dieser Art dauern selten länger als eine Minute, doch der gewissenhafte Eisenbahnbetreiber von (japanischer) Welt sorgt dafür, dass seine Fahrgäste sich gut informiert fühlen. Kurz bevor der Zug seine Reise wieder fortsetzt, werden die Fahrgäste ebenfalls gewarnt: „Achtung, gleich fahren wir wieder los“ – je nach Dauer des vorhergehenden Aufenthaltes wird noch hinzugefügt „Wir haben sie fürchterlich lange warten lassen – Vorsicht, wir fahren nun gleich wieder los.“ – es ist schon interessant, welches Level an Kundenservice hier vorausgesetzt wird.

Ach ja – der Zugführer und Privatsphäre auf der Arbeit? – nicht in Japan. Außer in überregional- oder Expresszügen kann man in den meisten Garnituren dem Zugführer beim Arbeiten zusehen. Teilweise macht dieser dann auch sehr ausschweifende Bewegungen, wenn er auf seinem in der Führerkabine hängenden Zeitplan überprüft, ob er denn noch im Zeitfenster ist, oder wenn das Signal, an dem der Zug gerade vorbeifährt, vor dem Passieren als „gesehen und für korrekt befunden“ bewertet wird.

Es ist schlichtweg beeindruckend – gleichzeitig auch etwas besorgniserregend. Im November hat die Betreiberfirma einer Zuglinie, die Tokyo mit einigen Städten im Norden verbindet, eine offizielle Entschuldigung publiziert, nachdem einer ihrer Züge um 20 Sekunden (!) zu früh abgefahren war. „Wir entschuldigen uns zutiefst für die schwerwiegenden Unannehmlichkeiten, die wir unseren geschätzten Kunden zugemutet haben.“ liest sich das Statement der Betreiberfirma sinngemäß.

Für die Gäste, die wegen der 20 Sekunden den Zug nicht mehr erwischt haben, mag dies eine nachvollziehbare Entschuldigung sein, gleichzeitig weist sie aber auf den Druck hin, dem Mitarbeiter im Transportbereich in Japan ausgesetzt sind. Bereits mehrfach führte dies dazu, dass der Versuch, (für das westliche Verständnis) geringfügige Verspätungen aufzuholen, dazu führte, dass eine Kurve zu schnell angefahren wurde und ein Zug aus den Gleisen sprang. Es ist dieser für außenstehende oft un- oder nur schwer sichtbare Druck, den die japanische Gesellschaft auf ihre Bewohner ausübt, der vielen Japanern das Leben nicht oder nur wenig lebenswert sein lässt. All die Bequemlichkeit, all das Zuvorkommen, die Höflichkeit, die man als Ausländer an der japanische Gesellschaft so schnell zu schätzen und genießen lernt, ist oftmals ein Ausdruck eines Pflichtgefühls oder eines Erwartungsdrucks, dem der Japaner gerecht zu werden versucht. Das ständige nicht genügen, das immerwährende Vorsichtig sein müssen – wie dies wohl überwunden werden kann? Es ist mein Gebet, dass viele Japaner, die diesem Druck nicht standhalten können, im Evangelium Hoffnung finden und dass es in der Gesellschaft eine Bewegung in Richtung einer gesunden Distanz zur eigenen Leistung gibt. Wenn Jesus schenkt, dass dieser Teil der Kultur erlöst wird, sodass die vielseitigen Formen mit Leben und Freiheit und der Freude an dem von Gott in Jesus Christus neu geschenkten Leben gefüllt werden und auf diesem stehen, um wie viel lebenswerter würde dieses Schöne Land dann für viele seiner Einwohner sein.

Quellen: https://www.theguardian.com/world/2017/nov/17/japanese-rail-company-apologises-train-20-seconds-early
http://www.mir.co.jp/company/release/2017/post_109.html